Architektur ohne Architekten
Heute konzipieren wir Gebäude mit KI und 3D Modellen. Planansichten sind mit Verkaufsprospekten vergleichbar. Deshalb beschäftigt mich die Frage, welchen Weg die Architektur nehmen wird, wenn ihr Schöpfungsprozess nicht mehr durch unmittelbare sinnliche Wahrnehmung, durch menschliche Vorstellungs- kraft und Darstellungstechnik und durch formprägende Elemente der Handwerklichkeit und der Tradition bestimmt wird. Mit künstlicher Intelligenz glauben wir eine griechische Vase erschaffen zu können. Aber in Wirklichkeit gelingt uns nur die Aufzeichnung einer hypothetischen Formhülle, die der echten Vase zum Verwechseln ähnlich sein kann. Gerade die gegenwärtige Debatte über die Baukultur weckt in mir kritische Fragen, ob heute noch genügend Vorbedingungen geschaffen werden können, um darauf diese neue Baukultur aufzubauen.
Formensterben
Die heutige inflationäre Verwendung von Formen betäubt unser Form- empfinden und die Seeschärfe, mit der wir unsere Umwelt wahrnehmen. Verstärkt durch den Vorschriftendschungel verunklären wir beim Gestalten unserer Bauten und Gebrauchsgegenstände die Zielsetzung der wahren Form: Innovation, Brauchbarkeit, kulturelle Eingebundenheit, Verständlichkeit, Materialgerechtigkeit, Konsequenz, Langlebigkeit und Umweltfreundlichkeit, aber vor allem auch Vielfalt und persönliche Leidenschaft. Einrichtungsgegenstände, selbst „funktionale“ Küchen sind zu modular getakteten technischen Vorzeigeobjekten geworden. Die Menschheit hat in ihrer Jahrtausende alten Kulturgeschichte immer um Form, Ausdruck und Schönheit gerungen und diese in das Wesen der Gestalt von Gegenständen eingearbeitet. Nur auf einer Generation mit geschärften Sinnen für Form lässt sich Baukultur auf breiter Basis aufbauen.
Einheitsbehausung
Noch vor 200 Jahren entdeckten Reisende auf unserem Planeten eine unglaubliche Vielfalt von Bauformen und teils gewachsenen, teils geplanten Siedlungsstrukturen. Heutige Luftaufnahmen, sei es in Wladiwostok, Mumbai oder Lima, zeigen wie riesige Neubauquartiere die historischen Stadtkerne umwuchern und zu ersticken drohen. Ob in Form von Hochhäusern, Wohnblöcken oder Teppichbebauungen bestehen diese Vorstadtsiedlungen auf der ganzen Welt aus ähnlichen Wohnstrukturen. Aber auch die Armut ist in der Form von Slums in die Städte gezogen, bietet aber keine Chance für echte bauliche Vielfalt. Diese Elendsviertel sind sich auf der ganzen Welt ähnlich, weil sie vermutlich aus dem überall gleichen Abfall unserer Wohlstandsgesellschaft zusammengeflickt sind und traditionelle Baumaterialien und Baumethoden für ihre Erbauer unerreichbar sind. So scheint es, als ob sich die Menschheit unabhängig von Klima, Tradition und technischem Entwicklungsgrad mit dem unaufhaltsamen Wachstum unserer Städte weltweit auf wenige Typologien von Behausungen geeinigt hätte, welche samt Einrichtungsgegenständen als Wunschvorstellung des Wohnens vermarktet werden. Natürlich tröstet uns die digitale Welt mit unendlich vielen oberflächlichen Designoptionen. Aber diese entspringen nicht mehr existentiell oder kulturell eigenständigen Lebensvorstellungen. Die Kultur- und Architekturgeschichte der Menschheit basiert auf Überkreuzungen und Amalgamierungen kultureller Strömungen. Diese gegenseitige kulturgeschichtliche Befruchtung ist heute im globalen kulturellen Einheitsstrom erlahmt.
Rückschritt durch Technik
Die Bauindustrie sieht den Weg in eine nachhaltigere Zukunft meist nur in der Innovationskraft der Technik, neuen Produkten und Materialien, aber auch in noch komplexeren und kapitalintensiveren Produktions- und Steuerungssystemen. Jüngste Nachmessungen zeigen in der Gesamtbilanz, graue Energie und Nachhaltigkeit der Baustoffe eingeschlossen, enttäuschende Gesamtwerte. Die Baukultur muss in Richtung einer Bauproduktion arbeiten, die von möglichst vielen verstanden, praktiziert und repariert werden kann, unter intelligenter Verwendung lokaler Baustoffe in überschaubaren Produktionsprozessen, Warenflüssen und Wiederverwertungen. Nur dadurch gewänne die Architektur auch wieder an Ausdruckkraft, regionalem Gepräge und Persönlichkeit.
Zwang zum Komfort
Gehen wir davon aus, dass die Baukultur jedem Menschen zusteht, müssten auch die Ansprüche an unsere gebaute Umwelt für alle gelten. Würde aber der Raum- und Komfortanspruch in unseren westlichen Ländern auf die gesamte Menschheit übertragen, wären weder die weltweiten Ressourcen noch der Siedlungsraum ohne schweren Schaden an der Umwelt ausreichend. Komfortverzicht ist ein Tabuthema. Alle Überlegungen zur Implementierung von Baukultur müssen aber bei einer differenzierten Analyse unserer eigenen Ansprüche an das Bauen anfangen. Unsere Ferienabenteuer in Zelten und einfachsten Unterkünften, der Wunsch nach archaischer Lebensweise und einem intensiveren selbstbestimmten Lebensgefühl weisen uns dabei den Weg.
Bauscham
Semesterarbeiten und Projekte an unseren Schulen zeigen eine Tendenz zum Bauverzicht und zur Form-Verweigerung. Das heisst, wenn immer möglich nicht bauen; wenn schon bauen, dann möglichst Vorhandenes umbauen, wiederverwerten und in eine Kreislaufwirtschaft einbinden. Form wird als Verführung wahrgenommen. Sie ist mehr Resultat als bewusst gestaltete Schöpfung. Die Baukultur bedingt aber den Willen zum verantwortungsvollen Gestalten und die Lust am Kreieren. Diese Art von Formverlust und Formunlust in der Architektur erinnert mich allzu sehr an die Fehler, die wir in den 68er Jahren gemacht haben.
Unnütze Variation
Baukultur verlangt nach Formenvielfalt. Richtig. Aber in unserer gebauten Umgebung gibt es auch zu viel Vielfalt. In unseren Einfamilienhaussiedlungen gleicht oft kein Haus dem anderen und alle buhlen um Aufmerksamkeit durch individuelles Formengehabe. Auch Neubauquartiere werden oft haus- oder blockweise durch verschiedene Architekturbüros nach eigenen Gestaltungsvorstellungen entworfen. Die Gegenwartsarchitektur ist getrieben durch den Zwang zur individuellen Verwirklichung. Kein Haus soll dem anderen gleichen. Derweilen bewundern wir mediterrane Siedlungen ganz in Weiss, mittelalterliche Städte aus einem einheitlichen Materialverständnis entstanden oder auch die strenge Disziplin ganzer Strassenzüge in Quartieren des 19. Jahrhunderts. Gutes Bauen sollte die Alleinstellungsmerkmale nicht nur für sich beanspruchen, sondern in den Dialog zu andern stellen. Gute Architektur muss einer kollektiven Verwirklichung entspringen, durch angemessene individuelle Prägung im Siedlungsganzen einen differenzierten Beitrag leisten und sich auch heute noch als Teil einer Jahrtausend alten örtlichen Bautradition verstehen.
Staat-Stadt
Die Stadt gehört zu den grössten Errungenschaften der menschlichen Kultur. Sie entsteht nicht einfach durch Verdichtung, flächenmässiger oder zahlenmässiger Vergrösserung von dispersen Ansiedlungen. In der Schule wird ihre Entstehung meist durch Gründungsmythen erklärt. Konnte eine so gewaltige Stadt wie Uruk ohne Vorbilder und nur als Vision von Herrschern enstehen? Bedenkt man die praktisch parallele Entstehungvon Werkzeugen und Waffen, Gegenständen des Alltags, Insignen der Macht, Bauten, Kultgegenständen, und das «Wunder» der Entwicklung der Keilschrift, so entspricht diese früheste Stadtgründung eher einer strukturierten Verballung vieler Merkmale eines verdichteten urbanen Zusammenseins: Schutz, Warenaustausch, Versorgung, territoriale Aneignung und Verteidigung, Kontrolle über Anbauflächen und Wasser, Buchführung und Arithmetik, Geschichtsschreibung, Machtanspruch, aber auch Rechtsprechung, der Glaube an eine höhere Macht in einer Vertretung auf Erden, und nicht zuletzt der Drang zu Form und Bestand in Stein. Damit teilte diese wundersame Entstehung, genannt Stadt, im Lauf der Geschichte auch das Schicksal der Menschen. Ich hatte immer gehofft, dass nach der Zertörung von Karthago, dem Sacco di Roma und den Flächenbombardements im 2. Weltkrieg die Zerstörung der Stadt als Mittel zur Zerstörung eines sich in einer Stadt manifestierenden Staates nicht mehr zur Anwendung kommen würde. Die jüngste Geschichte lehrt uns leider das Gegenteil.
Baukultur
Die Davoser Deklaration, die nachfolgende Debatte und die Formulierung von Kriterien zu ihrer Implementierung haben das Bauen als kulturelle Handlung offiziell etabliert. In zahlreichen Diskussionen, Studien und konkreten baulichen Konzepten wurde in den letzten Jahren das Verständnis für Baukultur verfeinert und tiefer in unserer Gesellschaft verankert. Dem Bestreben nach guter Architektur und gutem Städtebau steht aber ein dramatischer und unaufhaltsamer Zerfall von kulturrelevanten Werten gegenüber, von Vorbedingungen, welche eine qualitätvolle Baukultur überhaupt ermöglichen würden. Auch der Umkehrschluss, dass gutes Bauen diese Vorbedingungen für dieZukunft zu seinen Gunsten wirksam zu beeinflussen vermag, scheint mir kaum realistisch. Mit dem International Stile sollte eine gemeinsame moderne Formensprache unter Architekten geschaffen werden. Vergleichbar mit einer Heilslehre sollte die moderne Lebensvorstellung bis in die urchigsten Regionen mit alteingesessenen Bautraditionen getragen werden. Heute müssen wir feststellen, dass von diesen ursprünglichen und prägenden Quellen unserer globaBautraditionen nur wenige so überlebt haben, dass sie sich als Anknüpfungspunkte für eine neue Baukultur anbieten können. Der Rest unserer weltweiten Ansiedlungen ist bereits bereits von kommerziell gesteuerten Baumassen überwuchert. Es gilt zu retten, was noch zu retten ist, aber eine kohärente Baukultur, wie wir sie aus der Geschichte kennen, wird es nie mehr geben.
Menschliche Schöpferkraft
Alles Gebaute, auch die High-Tech Architektur, besteht letzten Endes nur aus transformierter Erde unseres Planeten. Aber die Art, wie diese Transformation bewerkstelligt und gestaltet wird, entscheiden wir Menschen. 1982 durfte ich auf dem Gerüst die Restauration der ersten drei Lunetten der Sixtinischen Kapelle beobachten. Einige gut erkennbare Kreidestriche haben in mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Michelangelo, vermutlich wegen des zuschnell trocknenden Intonaco, war gezwungen, das Gesicht einer Figur spontan gegen die Wand zu drehen, und dabei Aussage und Ausgewogenheit der Komposition neu auszurichten, eine geniale Kombination von Genie, Disziplin und intuitiver Spontaneität. Der von Nippon Television Network, Hauptsponsor der Restauration, beauftragte Fotograf Takashi Okamura hatte trotz damals modernsten Apparaturen und unerschöpflichem Budget Mühe, mit seiner Kamera den wahren Eindruck der vielleicht allzu hell restaurierten Fresken auch nur annähernd einzufangen. Die Fresken der Sistina sind nicht nur das Resultat eines hochentwickelten handwerklichen Prozesses und einer späteren sensiblen Nachbearbeitung. Sie entwickeln ihre Wirkung vor allem durch die Materialeigenschaften und die Schichtung in der Tiefe, also letztlich durch den menschlichen Schaffensprozess, welcher auch durch modernste digitale Darstellungstechniken nicht ersetzt werden kann. Deshalb glaube ich bis heute an die Handwerklichkeit des architektonischen Entwurfs als Werkzeug der menschlichen Schöpferkraft