3Druckgrafik als dreidimensionale Zeichnung

für wen bauen wir - die 68er Jahre
die nicht dividierende Raumvorstellung
Mensch, Bau und Natur
organische Ordnung und mathematisch-geometrische Natur
Bild und Abbild
die gerade Linie

Für wen bauen wir? Die 68er Generation hat anden Architekturschulen die soziale Relevanz des Bauens in den Vordergrund gestellt. Unweigerlich führte dies zu einer Hinterfragung der bis anhin unbestrittenen Vorbildfunktion der Meister der Moderne, wie Le Corbusier, Mies van der Rohe, oder auch Karl Moser von Grund auf hinterfragt werden. Funktionalistische Entwurfsmethoden undabstraktes Komponieren wurden durch strukturalistische und wahrnehmungs-psychologische Theorien ersetzt.   Diese Rebellion gegen alle etablierten Architekturauffassungen, inklusive der Moderne, endete in einer Architektur der Gestaltlosigkeit. Selber ein Teil dieser studentischen Auflehnung, diplomierte ich an der ETH tief verunsichert und mit fehlendem Vertrauen in die Kraft und Bedeutung der Form.

Aus einem mir heute noch unerfindlichen Grund kaufte ich eine Kupferplatte und einen Stichel, und - ahnungslos in der Technik - versuchte Figuren einzuschneiden. Das Resultat: eine Tiefdruckplatte, die ich nicht auf Papier bringen konnte. Sibylle Heusser, damals Assistentin bei Professor Paul Hofer an der ETH verwies mich an Pietro Sarto und sein Druckatelier in St.-Prex am Genfersee. Damit begannen mehrere Aufenthalte in der Künstlergemeinschaft: tagsüber Arbeit an den Druckerpressen, dazwischen aquarellieren in der Landschaft des Waadtländer Plateaus, abends ausgiebige Diskussionen über Sinn und Bedeutung alles Bildhaften, immer anhand dereinmaligen Sammlung von Druckgrafiken der Stiftung des Atelier de St.-Prex und Cuendet mit Originalen von Rembrandt, Melan und Piranese. Es war die Nähe zu diesen fantastischen Originalen, die mich die tiefere Bedeutung von Darstellungen – auch architektonischen – verstehen liess. Pietro Sarto, Edmond Quinche und Michel Duplain verdanke ich viel für ein Verständnis von Raum, einem entmaterialisierten, dem keine Grenzen gesetzt sind. Die Architekturlehre an Schulen beschränkt sich auf endliche und geometrisch disziplinierte Raumgliederungen, welche mittels Proportionslehren harmonisch unter Kontrolle gebracht werden können.

Die Natur spielt in architektonischen Rissen eher eine Statistenrolle. In der Moderne wurde sie oft schablonenhaft als eine Art Plan ihrer selbst oder als virtuos gekritzelte Signatur zwischen die eleganten geradlinigen Linien der Perspektiven eingespielt. Frank Lloyd Wright bildet da eine Ausnahme. Seine Architektur verlangt geradezu nach der Natur, um ihre ordnende Kraft zu entwickeln. Seine Häuser scheinen aus den organischen Elementen von Topographie, Landschaft und Flora herauszuwachsen. Frank Lloyd Wright gelang es im „Natural House“ die unabdingbare Gegenwart von Natur in ihrem tieferen Wesen auf das fertige Bauwerk zu übertragen. Piranese dagegen hat in seinen Veduten die zerstörerische Vitalität der Natur als „subversives“ Element integriert, das zum Zerfall der Bauwerke beiträgt, diese aber auch romantisiert. Damit gelang ihm eine fantastische Verbindung von buchhalterischer archäologischer Inventarisation, Interpretation, Spekulation und Allegorie, ein Amalgam aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die unvergleichbar virtuos-turbulenten und ins Unendliche reichenden Himmel geben diesen Darstellungen eine metaphysische Dimension. Derartige Qualitäten architektonischer Darstellungen haben mich fasziniert. Unsere heutigen hyperrealistischen Visualisierungen scheinen dagegen schal und kraftlos. Das Stechen auf Kupfer oder das Zeichnen auf Papier setzen Vorstellungskraft und eine Gesamtsicht voraus. So wie beim Gehen muss ein Schritt vor den anderen gesetzt werden. Mit den digitalen Copy-Paste Techniken versuchen wir heutzutage alle Schritte auf einmal zu machen. Das konzeptionelle Denken bedarf aber eines starken ordnenden Ausdruckmittels, damit die Grundidee diszipliniert zu einem kohärenten Entwurf zusammen gefügt werden kann. War Piranese ein genauer und geduldiger Schaffer? Das Gegenteil war der Fall. Der oft ungestüm aufbrausende Piranese brauchte die minutiöse Arbeit auf dem Kupfer, um sich selbst zu disziplinieren.

Der Mensch im Gegenüber mit der Natur beschäftigt unser Denken in der westlichen Kultur seit der Antike. Die Natur war in der menschlichen Entwicklungsgeschichte Inspiration für Schönheit und Perfektion, aber auch Lehrmeister und Gefahr. Im Verlauf der Geschichte wurde diese Natur zunehmend domestiziert und schliesslich als modernes Stadtgrün in unsere Quartierpläne eingefügt oder in Zukunftsvisionen als vertikales Retortengewächs an den Fassaden hochgezogen. Diese Tendenzen mögen vielleicht einen biologischen Ersatz darstellen. Aber sie können keinesfalls das ersetzen was die Natur in unserer Empfindung und Wahrnehmung hervorruft. In meinen fotografischen Aufzeichnungen z.B. von Olivenhainen hat mich vor allem dieses archaische Ineinanderkrallen von Naturformen und Menschgemachtem fasziniert. Gerade auf einer Kupferplatte kann man erleben, wie der nur zum Teil kontrollierbare Ätzvorgang durch Säure naturnahe Formen entwickelt, die Darstellung von Vegetation sozusagen selbständig erzeugt. Die Entwickler von Computerspielen wissen, dass sich rationale Formen, wie Bauten, Städte, Roboter in der digitalen Welt viel leichter darstellen und bewegen lassen als organische Formen, wie Pflanzen, menschliche Haare oder natürliche Landschaften. Die Arbeit mit dem Kupfer hat mir zweimal ein Eidgenössisches Kunststipendium beschert; in der Jury ein Architekt, Mario Botta. Und nur dank dieser Stipendien durfte ich 2 Jahre im Schweizer Institut in Rom meine Studien über die Antike und den Barock vertiefen.

Begreifen unsere in der digitalen Welt aufgewachsenen Architekturstudenten noch den fundamentalen Unterschied zwischen Handzeichnung und Plott, Bild und Klon, Original und Kopie? Heute sind Bilder Datenklüngel, welche für das menschliche Auge nur mit einem Entschlüsselungsprogramm zig-fach in verschiedenen Grössen und Qualitäten auf einem Bildschirm sichtbar gemacht und bei Bedarf ausgedruckt werden können. Selbst die frühesten Spuren von menschlichen Darstellungen, wie der Abdruck einer Hand auf einer Höhlenwand, der virtuos aufgetragene Umriss eines Tiers oder eine eingeritzte Figur auf Stein zeigen identifizierbare handschriftliche Signaturen. Als Zeugen früher handwerklicher Tätigkeit entstanden sie durch Materialsubstraktion oder Materialauftrag. Der klassische Hoch- oder Tiefdruck benötigt durch typografische Erhöhungen oder eingravierte oder eingeätzte Vertiefungen heute noch die dritte Dimension.

Im Fall der Gravurtechnik entstehen Linie und Figur durch physikalischen Druck. Der von Hand geführte Stichel, vergleichbar mit einer Skifahrt durch den Neuschnee, erzeugt die Kurve aus der Dynamik der Bewegungskräfte. Und die gerade Line wird zu dem was sie eigentlich ist, zum Spezialfall einer Kurve.Die Kurvilinearität bleibt der Normalfall. Die gerade Linie kommt in der Natur nur in einer Annäherung vor. Im Bauprozess oder beim Baumschnitt (taille sévère) musste die gerade Kante regelrecht durch technische Hilfsmittel wie Schnurschlag, durch Lineale und Schablonen oder Peilung erkämpft werden. Gerade Linien und Kanten, Masspräzision, Proportionslehren, mathematisches Denken sind Zeichen von Hochkulturen. Umso erstaunlicher ist es, dass die mit der griechischen Klassik und der Renaissance in unserem Kulturraum einmal eroberte gerade Linie ausgerechnet im Barock, im Zeitalter der aufblühenden exakten Wissenschaften, wieder gekrümmten komplexen Linien Platz machen musste