der frühe römische Barock
Licht- und Schattenspiel
offene Raumdefinitionen
perpetuierender Raum
interaktive Architektur
Das erwähnte Misstrauen gegenüber geraden Linien und dem auf primäre geometrische Formen reduzierten Vokabular der Renaissance weckten mein Interesse am frühen römischen Barock. Dem kunsthistorischen Kanon folgend, begriff ich bei meinen Spaziergängen durch Rom den Sinn und die Wirkung der wahrnehmungsbedingten Anpassungen, Verzerrungen und der schraubenförmigen Dynamisierung reiner Geometrien im Manierismus. Aber beeindruckend für mich war die Vehemenz, mit der in kurzerZeit durch drei Protagonisten, Bernini, Borromini und Pietro da Cortona die noch mehrheitlich in sich ruhende Raumkonzeption der späten Renaissance revolutioniert wurde. Ich stand auf einmal vor ineinander verschachtelten, fliessenden Raumfolgen, differenzierten Raumschichtungen und ins Unendliche drängenden explosionsartigen Raumgebilden. Vor allem Paolo Portoghesis These des auf den drei Prinzipien Infinito, Chiaroscuro und Transvalutazione beruhenden frühen römischen Barocks hat mich zu zahlreichen zeichnerischen Studien angeregt.
Mit Chiaroscuro wird häufig das Spiel mit Hell-Dunkel verstanden. Am Begriff des Chiaroscuro im Barock hat mich weniger die nuancierte Schattierung in den Fassadenstrukturen und Skulpturen interessiert. Diese Schattierung wurde bisher als Feinabstufung der Grauwertskala zwischen dunkler und heller Oberfläche verstanden. Mit dem Chiaroscuro des frühen römischen Barocks wurde ein völlig neuer Tonalitätsraum geschaffen. Dieser definiert sich nicht mehr als ein Dazwischen, sondern als endloser Farbraum, der von einem mittleren Grau auf der einen Seite bis ins unendlich Helle, auf der anderen Seite bis ins unendlich Dunkle reicht. Das vertraute Spiel von Licht und Schatten wird damit zum für unsere Augen sichtbaren Bereich zwischen zwei nicht fassbaren Extremen. Dies kann als Analogie zu unserer Existenz gedeutet werden, welche sich auch zwischen dem unendlichen Dunkel des leeren Weltraums und der unendlichen Helle der Sonne, aber auch zwischen einer zeitlich nicht vorstellbar weit entfernten Vergangenheit und Zukunft bewegt.
Beim Zeichnen und geistigen Nachvollziehen hatte ich oft den Wunsch, auf einem randlos in Unendliche reichenden Blatt arbeiten zu können, um dem Raumanspruch des frühen römischen Barocks gerecht zu werden. Bei den Präriehäusern von Frank Lloyd Wright erzeugen die horizontal weit auskragenden und vom Kern des Hauses zum Horizont weisenden Dachelemente eine vergleichbare Wirkung. Die Qualität des Infinito bezieht sich aber nicht nur auf offene Raumdefinitionen, wie bei den ins Unendliche zeigenden Muschelformen des Tritone-Brunnens in Piazza Barberini oder bei vor- und zurückpulsierenden Fassaden, die sich jeder Frontalitätentziehen wie bei San Carlino.
Wahrend meinen fast täglichen Spazier- und Skizzengängen durch das barocke Rom konnte ich sinnfällig erfahren, wie dynamisch und interaktiv der frühe Barock Borrominischer und Berninischer Prägung erlebt werden sollte. Die Absage an jegliche statische Frontalität der Fassade von Santa Agnese in Piazza Navona kann nur von einem Betrachter verstanden werden, der sich in der Längsrichtung des Platzes bewegt, die drei Kuppeln und den tief gesetzten Mittelteil der Fassadeim Blick. Die theatralische Wirkung der sich lateral wie Bühnenbildteile verschiebenden architektonisch - skulpturalen Elemente beruht nur auf dem von Borromini um ca. 1.5 Meter zurückgewölbten Mittelrisalit. Und es wird einem klar, warum die Fontana dei Quattro Fiumi von Bernini nicht auf die Fassadenachse ausgerichtet sein darf.