7Formgebung und Formfindung

Wille zur Form
Kunst unästhetisch
Skizze als Gestaltsuche
vom Wesen der Form
Technik und Natur als Formenlehre
die Eroberung der Welt

Woher kommt der menschliche Drang, seine Umgebung über die Nützlichkeit hinaus zu gestalten? oder sich in Formen wieder zu finden? Wie formbar sind wir selber durch unsere soziale Umgebung, die gebaute Umwelt und die Natur? Können Formen uns etwas mitteilen? Ich bin überzeugt, dass wir auch in Formen denken. Louis Kahns Unterscheidung zwischen Form und Design hat mich in meinem Schaffen ständig begleitet. In seiner Deutung haben menschengeschaffene Formen immer eine Bedeutung, nicht aber Designs.

Der heute in Paris lebende Schriftsteller und Kunstkritiker Paul Nizon wurde 1969/70, während meiner ersten Studienjahre, als Gastdozent („writer in residence“) an die ETH eingeladen. Sein Seminar unter dem Titel „Kunst unästhetisch, Traktanden zum Thema Architektur und Kunst“ setzte sich in unkonventioneller querdenkerischer und assoziativer Art mit den tieferen Beweggründen künstlerischen Schaffens, aber auch mit dem Entschlüsseln von Formen in Kunst und Architektur auseinander. Als sein Assistent half ich bei der Vorbereitung der Seminare mit, die „Denkköder“ auszulegen, um die sich die Diskussionen dann kristallisieren sollten. Tönt kompliziert, war aber einfach. Für ein Seminar zum Thema „Stadt der Lebenden – Stadt der Toten“, wurden zum Beispiel als „Köder“ Diapositive vom Judenfriedhof in Prag, mexikanischen Totenfesten und der Zickzack-Ästhetik eines Chrysler Buildings einander gegenüber gestellt. In der Diskussion wurde dann versucht, die Gestaltmerkmale dieser grundverschiedenen Äusserungen menschlichen Daseins zu entschlüsseln und auf den Prozess und die Voraussetzungen ihrer Formwerdung zurückzuführen. Formen können nie losgelöst von der Einbettung in einen bestimmten kulturellen Kontext, ein existentielles Urempfinden oder speziellen Schaffungsbedingungen verstanden werden. Diese verborgene Dimension hinter der vordergründig sichtbaren Form in Kunst und Architektur hat mich seither beschäftigt. Im Louvre skizziere ich immer wieder die gleichen Werke, nicht weil ich ihre Form nicht nachvollziehen kann, sondern um die verborgene Bedeutung dahinter besser zu verstehen.

Meine häufigen Besuche im Louvre betrachte ich als Exerzitien. Oft interessieren mich skizzenhafte Darstellungen, Notationen, Konzeptstudien, kurz alle Vorstufen eines Werkes, mehr als das Werk an sich. Sie erlauben sozusagen einen unverfälschten Einblick in den Schaffensprozess. Beim Skizzieren im Louvre ist mir bewusst, dass ich Kunstwerke oder Artefakte anderer zeichne. Diese Museumsobjekte haben sich bereits einem menschlichen Werdensprozess unterzogen, sind mit Zeitstil behaftet und Resultat einer individuellen Sehensweise und Darstellungstechnik. Fügt man bei bildhaften Objekten noch den Bildrahmen hinzu, dann skizziere ich wie durch das Fenster in einer fremden Behausung.

Das Abzeichnen als Mittel der Suche nach verborgenen Dimensionen lässt einem den Schaffensprozess nachvollziehen und verdeutlicht, wie intensiv und unausweichlich der Zwang zur Ordnung im Entstehungsprozess von Kunst und Architektur ist. Eine Darstellung kann sich nur mitteilen, wenn sie aus prägnanten Umrissen, Bildebenen, kompositorischen Beziehungen und auch einem nachvollziehbaren Narrativ zusammengefügt ist. Sowurde mir zum Beispiel erst durch das Nachzeichnen bewusst, wie stark Kompositionsprinzipien der modernen abstrakten Kunst bereits hintergründig in den Bildern der klassischen figürlichen Malerei bewusst oder unbewusst vorweggenommen sind. In der Architektur ist der Rückbezug der Moderne auf die Gotik, Renaissance und den Barock viel offensichtlicher.

Eine simple mesopotamische Tonfigur vor Augen, wird einem abseits jeder kunsthistorischen Betrachtung klar, wie existentiell der Drang zum Gestalten in der Geschichte der Menschheit ist. Vor zig-tausendJahren hatte jemand mit seinen Händen aus dem Material seiner Umgebung ein Artefakt auf bestimmte Art geformt und im Alltag verwendet. Mich berühren diese Momente zutiefst, weil ich über den Gegenstand den Menschen dahinter spüre, von dem ich nicht weiss wie er aussieht und lebt. Aber in den Formungen des Gegenstandes fühle ich mich ihm nahe.

In der Formfindung habe ich die Zusammenarbeit mit guten Ingenieuren oder Fachleuten immer sehr geschätzt, vor allem wenn das Konzept nicht a priori fest stand und nur noch architektonisch eingekleidet werden musste. Ob Seilbahn, Theater, Schutzbau oder exponierte Aufzugsanlage, es waren immer die funktionellen und technischen Einflussgrössen, die ich an den Anfang der Formensuche setzte. Während zum Beispiel beim Malta Wettbewerb die meisten der über achtzig teilnehmenden Architekten Gebäude mit Schutzfunktion entwarfen, kam ich zum Schluss, dass mein „Nicht-Gebäude“ nur aus einer 3mm dicken Membrane bestehen müsste, welche natürlich eine Aufspann-Struktur benötigte.

In der Moderne folgt die Form der Funktion. Also müsste aus der Form die Funktion entschlüsselt werden können. Kulturgeschichtlich betrachtet scheint dies nur begrenzt möglich. Die Bausubstanz, die die Jahrhunderte überlebt hat, diente oft einer rituellen Zeremonie oder der Machtbezeugung. Sie war der von der menschlichen Vorstellungskraft geformte Ausdruck eines metaphysischen, rational nicht greifbaren Bauprogrammes. In einer Welt, in der alles eine Erklärung haben muss, finde ich es beruhigend, dass wir bei Gegenständen aus Frühkulturen oft nur über deren Funktion mutmassen können. Formen die uns Eindruck machen, auch wenn wir ihre Bedeutung nicht kennen, tragen wir oft über Jahre in uns und geben sie irgendmal in einem Entwurf wieder frei. Nur dadurch kann ich mir die erstaunliche Ähnlichkeit in der Formensprache zwischen der Tempelanlage von Hagar Qim und Ronchamp erklären. Wir wissen, dass Le Corbusier auf einer seiner Orientreisen Malta und sicher die Tempelanlagen von Ggantija besucht hat.

Ich liebe Kinderzeichnungen und bin immer beeindruckt, wie der Mensch sich schrittweise durch die Form des Lebens bemächtigt. Alle frühen Entwicklungsschritte lassen sich an Hand von Kinderzeichnungen verfolgen. Zum kindlichen Zeichnen gehört auch das Formen mit Sand oder Knetmasse. In einem frühen Stadium malt ein Kind einen unentzifferbaren Knäuel, aber erzählt dazu eine Geschichte. Später kommt eine Art Selbsterkennung dazu. Dann die Familie, meist in Form von Kopffüsslern. Undschliesslich werden diese in eine Umgebung gestellt, bei der das eigene Haus, das eigene Zimmer eine wichtige Rolle spielen. Die Formen sind zunächst abstrakt, der kindlichen Motorik angepasst, kreisende Knäuel, gerade Linie, Kreuz. Das Viereck und kombinierte und komplexe Formen kommen später in der Entwicklung. Mit welcher Konzentration und Ausdauer Kinder Formen klar umreissen, minutiös ausmalen und sorgfältig aufs Blatt setzen, habe ich immer bewundert. Erst mit Überlagerungen und perspektivischen Darstellungen verlieren die Kinderzeichnungen ihre naive Unschuld. Die kitschige Formensprache der kommerziellen Bildwelten hält Einzug. Erst im höheren Alter erkennt man, wie wertvoll diese unverfälschte Ausdruckskraft der frühen Zeichnungen war und wie unbekümmert und einfallsreich man in den Kinderjahren mit Formen umgehen konnte.