8Modularität und transitorisches Denken

Archiset
Komponentendenken
das sogenannte einfache Bauen
die Reproduktion des Archaischen
intelligente Module

Das sogenannte Letraset ist eine Garnitur von beliebig zusammensetzbaren Abreib-Buchstaben eines bestimmten Schriftcharakters. Mein «archiset» sollte dieses Konzept auf die Architektur übertragen. Mittels einer beschränkten Zahl von aufeinander abgestimmten Grundrisselementen sollten kohärente und funktionstüchtige Raumfolgen zusammengestellt werden können. Damit verbunden war die Überzeugung, dass sich die scheinbare Vielfalt architektonischer Grundrissdipositionen im Wohnungsbau auf ein Puzzle von Grundrisselementen reduzieren lässt. Diese Grundriss-Bausteine (wie Küchen, Nassräume, Raumtrennungen, Einbaumöbel) sollten dabei auf stereotype Schablonen reduziert werden. Provokativ waren solche Ansätze für Architekten die an den Einmaligkeitscharakter ihrer Werke glauben. Auf der anderen Seite zeigen Kataloghäuser im Holzbau des 19 Jh. oder Quartierentwicklungen des frühen 20Jh., dass aus einer intelligenten modularen Architektur beachtliche architektonische und städtebauliche Qualitäten entstehen können. Die Beschäftigung mit einer Komponenten-Architektur zeigte aber auch, wie sehr sich unsere sogenannte bedarfs- und funktionsorientierte Architektur an Mass- und Konstruktionsstandards festklammert, welche viel mit modischen Wohnvorstellungen und weniger mit echten Bedürfnissen und Tagesabläufen zu tun hat.

Die Velos, mit denen ich aufgewachsen bin, versinnbildlichen für mich intelligentes Design. Auf einen statisch optimalen, nämlich dreieckigen Rohrrahmen mit verstärkten Muffen und normierten Rohrdurchmessern, konnten fast alle wesentlichen Komponenten verschiedener Hersteller und Standards aufmontiert werden, um das Fahrzeug an die eigenen Bedürfnisse anzupassen, zu reparieren oder ganz oder teilweise wieder zu verwerten. Unsere heutigen Elektrobykes verbauen Spezialformen von Akkus und Antriebselemente in markenspezifische Rahmendesigns und können wegen des hohen Gewichts kaum mehr mit menschlicher Kraft fortbewegtwerden. Während noch zu Zeiten Haussmanns die Fassadenelemente ganzer heute viel bewunderter Strassenzüge auf normierten Komponenten beruhten, hat sich die moderne Architektur und unsere Zeit nur schlecht damit anfreunden können. Heute besteht kein Konsens mehr darüber, dass eine ganze Häuserzeile aus einer räumlich-strukturellen Regelhaftigkeit hervorgehen sollte, um quartierbildend zu sein. Deshalb fehlt in unseren Neubauquartieren oft die beruhigende und identitätsstiftende Einheit ganzer Strassenzüge und Ortsteile.

Wie viel meist giftiger und nicht mehr verwendbarer Schutt würde zurück bleiben, wenn einige der heute vielpublizierten Bauten einmal abgebrochen werden sollten. Wenn Kinder das mit einfachen Bauklötzen aufgetürmte "Traumschloss" zusammenstürzen lassen, machen sie dies nur, um mit den gleichen Klötzen wieder ein noch schöneres aufzubauen. Die uneingeschränkte Wiederverwendbarkeit von Bauklötzen stellt also den Idealfall einer zyklischen Architektur dar. Die gebaute Wirklichkeit ist natürlich viel komplexer.  

Wieso muss immer "für die Ewigkeit" gebaut werden? Wieso nicht mit reversiblen Pionierbebauungen Bedürfnisse und Möglichkeiten erkunden und Siedlungsansätze sich bewährenlassen? Wie viele Restflächen oder zeitlich ungenutzte Areale könnten temporär besetzt werden? Sollten unsere Städte nicht porös bleiben? Die laufende „innere Verdichtung“ stopft die letzten Lücken und damit Chancen für eine adaptive Siedlungsentwicklung. Wieso fürchten wir uns vor Provisorien und Übergangslösungen? Viele sind zu geschätzten „Providurien“ geworden. In unserer Zeit des raschen Wandels, der rasenden technischen Entwicklung und der menschlichen Mobilität besteht ein grosser Bedarf an einer Architektur der kurzfristigen Rückbaubarkeit, der Wiederverwendbarkeit und des minimalen Fussabdruckes.

Solche Überlegungen führten mich zu Studien über kleinzellige Gehäuse für Wohnen und Arbeit, dem Micro-Living und den Livin-Studios und schliesslich zum Bauen mit Modulen in der Form von Containern. Doch wir alle kennen die gestaltlose Hässlichkeit von gängigen Containersiedlungen. Zudem ist es unmöglich Wohn- und Arbeitsfunktionen einer Wohneinheit in der Dimension eines Strassentransport-Containers mit 250 cm Breite befriedigend unterzubringen, weil kritische Innenraummasse unterschritten werden müssen. Da meine modularen Gehäuse für Wohnen und Arbeiten jahrelang am gleichen Standort bleiben, konzentrierte ich mich auf mittels Spezialtransporten verschiebbare, bis zu 4-geschossig stapelbare und auch rückbaubare Modulelemente. Mit ihren Aussenmassen von 3 x 3 x 12 m können sie auf der Strasse mittelfristig verschoben und mit mobilen Kränen verbaut werden. Zum vorgefertigten Bausatz gehören neben den Modulen auch Spezialelemente für Aussenbalkone, Erschliessungs- und Treppenelemente, sowie textile Dach- und Beschattungselemente. Aber auch das Modulelement selbst besteht aus einem Rahmen in den verschiedene Teil-Komponenten, wie Fenster, Türen, Böden,Wände und Einrichtungen zu verschiedenen Modul-Typologien an- und eingebautwerden können. Mit diesen Studien wollte ich vor allem aufzeigen, wie mit einerbeschränkten Auswahl von Modulen durch geschickte Positionierung eine spannungsreiche Architektur mit differenzierten Freiräumen geschaffen werden kann.  Längs- und Querstellungen, Versätze und Auskragungen, und die gezielte Anordnung von Durchblicken erlauben abwechslungsreiche Bauformen mit Hofbildungen, die ortsverträglich eingepasste und gemeinschaftlich orientierte Habitats entstehen lassen. Für grössere Nutzungseinheiten werden mehrere Module miteinander verbunden.

Eine Anfrage zur Teilnahme an der Architektur Biennale 21 hat mich veranlasst, diese Überlegungen zu einem Beitrag zu bündeln. Dabei konnte ich an einen früheren Wettbewerbsbeitrag für die Wiederbesiedlung der verlassenen Insel Poveglia anknüpfen. Aber im Biennale Beitrag suchte ich nach einer reversiblen Pionierbebauung mit einem minimalen bleibenden Fussabdruck. Die Anpassung an das Gelände beschränkt sich auf Versorgungsanschlüsse, Schraubpfähle für die Fundamente und die Bereitstellungvon entsprechenden Zugangsmöglichkeiten, erweitert durch die Möglichkeiten von Elektromobilität. Diese Konzeptideen für die Biennale zielten weiter auf die temporäre Besetzung von urbanen Restflächen oder Bauerwartungsland, die Errichtung von Notunterkünften oder zeitlich begrenzte Forschungsstationen in der Natur. Letztere sollten dank ihren Verbrennungstoiletten, Regenwassertanks und Solarpanelen autark und umweltschonend bestehen können. Gerne würde ich diese seit dem «Archigram» von Peter Cook vergessene Idee der weitgehend selbständigen modularen Wohn- und Arbeitszelle im heutigen Kontext aufgreifen und auf eine breite Anwendung überprüfen.

Zur mittelalterlichen Handwerklichkeit könnenwir im Bauen jedoch nicht mehr zurückkehren. Und weder die bewohnbaren Plastikblasen und Flex-Schläuche von Archigram, noch die aufgetürmten Zellverbände der japanischen Metabolisten bringen uns weiter. Vielmehr brauchenwir intelligente, sich auf das Wesentliche beschränkende Komponenten und Module, die mit unseren heutigen technischen Mitteln aus regional verfügbaren Materialien in überschaubaren und adaptierbaren Serien in Manufakturen ökonomisch und ökologisch hergestellt und zu einem Grossteil wiederverwendet werden können. Dazu bräuchten wir differenziertere städtebauliche Strategien, welche nicht nur die letzten Brachen bis tief in den Boden überbauen, sondern schonend mit Übergangsnutzungen "testen", damit künftige Generationen zu gegebener Zeit über ihr definitives Schicksal entscheiden können.